Donnerstag, 21. Juni 2018

Die EU, wie wir sie kennen, ist bereits tot

The EU as we know it is already dead






Die hauptsächliche Quelle der Spaltung ist das Management der Migrationen
The main source of division for Europe is the management of migrations

Das sagt Rafael Hasenknopf in der grössten katholischen Tageszeitung Europas LaCroix International. Er interviewte Patrick MoreauPolitologe beim Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Frankreich. 

Foto LaCroix International 8.6.2018
Die populistischen Parteien seien jetzt in einer guten Situation, weil Europa in einer Krise steckt, sagt Patrick Moreau. Populistische, euroskeptische Parteien scheinen mit jeder Wahl auf dem Kontinent Fuß zu fassen. Doch dieser Vormarsch bedeutet nicht, dass sie bei den Europawahlen 2019 dominieren werden. 



Das Interview in Englisch kann nachgelesen werden 
The EU as we know it is already dead
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Hasenknopf im Interview mit Patrick Moreau


Raphaël Hasenknopf: Sehen Sie bei den Europawahlen im Mai 2019 einen Anstieg der euroskeptischen Bewegungen als unvermeidlich? 

Patrick Moreau: Es ist noch zu früh, das zu sagen. Im Vergleich zu den Wahlen 2014, die uns als Referenz dienen, hat sich die geopolitische Situation in Europa stark verändert. Es gibt keine deutsche Zentralität mehr und Europa ist in viele antagonistische Blöcke zersplittert. Eine gewisse Anzahl von Akteuren, wie die europhobische britische Partei Ukip oder bestimmte traditionalistische Parteien, die Souveränität wollen, besonders in Litauen, werden wahrscheinlich verschwinden. Die national-populistischen Parteien werden sich der Konkurrenz rechts von ihnen stellen müssen. Eine Vielzahl neuer Akteure und eine völlig andere politische Konstellation gibt es jetzt.

Raphaël Hasenknopf: Haben sich die populistischen Parteien seit den Wahlen von 2014 selbst verändert?

Patrick Moreau: Die Positionen der national-populistischen Parteien zu Europa haben sich deutlich entwickelt. Im Jahr 2014 waren sie alle gewaltsam antieuropäisch. Im Jahr 2018 haben sie Europa einfach nur kritisiert, weil sie verstanden haben, dass eine Mehrheit der Wähler nur eine Reform der Europäischen Union wollte und nicht ihr Verschwinden. So sehen wir einen semantischen Wandel von einer traditionellen Anti-Europa Haltung zu einer einfachen kritischen Haltung.

Raphaël Hasenknopf: Könnten diese neuen Europaparlamentarier letztendlich Europa "töten"? 

Patrick Moreau: Die EU ist, zumindest wie wir sie jetzt kennen, bereits tot. Das Bündnis zwischen der deutschen Zentralität und der Europäischen Kommission existiert nicht mehr. Sehen Sie sich die Wahlen der letzten Monate in Österreich, Italien und der Tschechischen Republik an: In all diesen Ländern sind teilweise populistische Parteien als Mitglieder regierender Koalitionen an der Macht.

Raphaël Hasenknopf: Eine Reihe von Euroskeptikern hat die beherrschende Stellung Deutschlands in der EU offen in Frage gestellt. Ist Deutschland also für diesen Wählerwechsel verantwortlich? 

Patrick Moreau: Darum geht es weniger. Die hauptsächliche Quelle der Spaltung Europas ist das Management von Migrationen, sowohl für Flüchtlinge aus Ländern des Nahen Ostens wie Syrien und Irak, als auch für "Wirtschaftsmigranten". Die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015, die Grenzen zu öffnen, hat Europa völlig gespalten. All die Matrizen, die wir haben, korrelieren das. Sollte sich die Flüchtlingskrise erneut verschärfen, können wir mit einem starken nationalen Populismus rechnen.

Raphaël Hasenknopf: Und wenn die Ankunft neuer Migranten unter Kontrolle bleibt?

Patrick Moreau: Dann würden die nationalen populistischen Parteien sich mit vielen anderen Parteien messen müssen.

Es würde eine starke Konkurrenz von linksradikalen Parteien bestehen, wie zum Beispiel La France in Frankreich oder Podemos in Spanien, und andererseits von einer radikalisierten konservativen Rechten wie in Polen. Die populistischen Parteien sind derzeit in einer guten Position, weil Europa eine Krise durchlebt, aber es ist nicht wahr, dass sie einen offenen Boulevard haben, der frei von Konkurrenz ist.

Raphaël Hasenknopf: Könnte Emmanuel Macrons Plan für eine europäische Reform die Lösung für den Euroskeptizismus sein? 

Patrick Moreau: Wir müssen ehrlich sein: Emmanuel Macron ist allein. Die Antwort von Angela Merkel war sehr vorsichtig. In einigen Punkten stimmen sie teilweise überein, aber im Grunde will niemand den Plan des französischen Präsidenten. Solange die deutsche Bundeskanzlerin die Einwanderungsfrage in ihrem eigenen Land nicht löst, kann sie nicht vorankommen. Sie befindet sich in einer Situation außergewöhnlicher Schwäche und in Europa ist sie auch weitgehend isoliert.

Meine persönliche Einschätzung


  • Das französische CNRS ist nicht irgendwer, sondern die grösste staatliche Denkfabrik - vgl. Centre national de la recherche scientifique
  • LaCroix International ist nicht irgendwer, sondern die grösste katholische Tageszeitung in Europa im vollständigen Besitz einer französischen Augustiner Kongregation, die eng mit der wissenschaftlichen Tradition Frankreichs verbunden ist. Der politische Einfluss französischer Katholiken wird bei uns stets leichtsinnig gering geschätzt.
  • Die wichtigste Erkenntnis besteht darin, dass das Bündnis zwischen der "deutschen Zentralität" und der Europäischen Kommission nicht mehr existiert. Es geht das Gerücht, dass die Unionsspitze an einer Neuauflage dieses Bündnisses arbeitet und David McAllister, den ehem. Minister-präsidenten von Niedersachsen als Nachfolger von Jean-Claude Juncker dorthin setzen will. Ehrlich: ich würde das lassen. Es kann nur nach hinten losgehen.
  • Die zweit wichtigste Erkenntnis besteht darin: Macron ist alleine und Merkel ist schwach und isloiert. In solchen Situationen ist es vernünftig, sich mit dem nächsten Partner zu einigen. Aber Menschen reagieren in ihrer Not nicht vernünftig. Es gibt da einige unschöne Dinge zwischen Merkel und Macron in der Vergangenheit, die bereinigt werden könnten.
  • Diese Dinge hängen zusammen mit meinem letzten Punkt: die Migrationen begannen 2015, aber die Bankenkrise begann 2008 und endete mit der Ausplünderung Griechenlands und später Spaniens und Portugals. Da war Macron noch sozialistischer Wirtschaftsminister unter Hollande. Er stand damals auf der Seite der Griechen und half dem griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Merkel hat ihn verschiedentlich düpiert, regelrecht abgekanzelt.
Wie man es dreht und wendet: die Berufs - Europäer müssen konsequent Abschied nehmen von ihrer scheinbar sicheren Machtposition. Je länger sie sich sträuben, desto schmerzhafter wird es. Sie müssen ihre Reformprojekte an die neue politische Konstellation anpassen.

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