Freitag, 10. November 2017

Ist Spaniens Krise eine Chance für Europa?

Is Spain's crisis Europe's opportunity?




Teil 4 / Part 4 - last update 14/11/2017

Proeuropäische Kritiker der EU und die strategische Krise der EU

Yanis Varoufakis hatte in Teil 1 gordische Knoten, speziell den gordischen Knoten EU, als ein zentrales Problem von Macht angesprochen. Guy Verhofstadt hatte in Teil 2 gefordert. die EU demokratischer zu machen, um die nationalistische Welle zurückzudrängen, die das europäische Projekt eigentlich verhindern sollte. Roger Boyes hatte in Teil 3 der Blindheit des EU - Establishments entgegengehalten, dass der zunehmende Populismus in EU - Staaten nicht allein aus einer Revolte der Zurückgeblieben entstanden ist. Die proeuropäischen Kritiker des EU - Establish-ments befürchten, dass die dogmatische Ablehnung berechtigter und zumutbarer Forderungen nach mehr regionaler Autonomie den Feinden der EU in die Hände spielt.


Was befürchten die proeuropäischen Kritiker der EU?


Simon Jenkins


Varoufakis, Verhovstadt, Boyes sind nicht alleine. Viele befürchten, dass die pauschale Ablehnung zumutbarer Forderungen nach mehr regionaler Autonomie den Feinden der EU in die Hände spielt.


Guardian 3.11.2017
Da sind ernst gemeinte Vorschläge zur Ein-führung "verschiedener Ebenen von Autonomie". Simon Jenkins z.B. spricht darüber in einem kürzlichen Artikel im britischen Guardian. "Wenn Basken, Bretonen, Bayern und viele andere den Ausgang der Ereignisse scharf beobachten, könnte jetzt der Zeitpunkt sein, um verschiedene Ebenen von Autonomie zu formalisieren."

Die EU - Länder hätten vielleicht recht, dass Katalonien juristisch die Angelegenheit des spanischen Verfassungsrechts ist. Aber sie sollten aufpassen, denn Katalonien ist ein Problem Europas. Er hält die Haftbefehle von 8 katalanischen Politikern aufgrund von unverfrorenen politischen Gründen und den Asylantrag ihres Präsidenten für eine abgekartete Konfrontation. Das schreibt er im Guardian unter dem Titel: "Katalonien ist nicht nur Spaniens Albtraum - es ist Europas Albtraum"
Catalonia isn't just Spain's nightmare - it is Europe's
Am 1. November hatte die Regierung in Madrid eine Vereinbarung abgelehnt, die Regierung in Barcelona nicht zu suspendieren, wenn diese die Unabhängigkeit nicht erklärt und einer lokalen Wahl im nächsten Monat zustimmt. Madrid hatte mit der Suspendierung und Katalonien mit der Erklärung der Unabhänigkeit geantwortet, aber ohne ihre Durchsetzung zu erwähnen. Die Regierung in Madrid verhaftete unverzüglich katalonische Politiker und Beamte, die sie finden konnte, wegen Rebellion und Hochverrat. So weit, so absurd. Es gibt nämlich keine Umfrage, die bei den Katalanen eine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit festgestellt hätte. Barcelona reagierte innerhalb akzeptierter demokratischer Normen ohne Anwendung von Gewalt, im Gegensatz zur Gewaltanwendung  durch die Madrider Regierung zum Stop des Referendums.

Niemals in dem langen und blutigen Kampf der Basken um ihre Unabhängigkeit wurde eine baskische Regierung inhaftiert. Nun sieht Katalonien in einem Monat einer Wahl entgegen, bei der ihre gesamte Regierung im Gefängnis sitzt. Katalonien wird scharf beobachtet von Basken, Bretonen, Flamen, Schotten, Bayern, Schlesiern, Ukrainern, Siebenbürgen, Venetiern, Korsen und anderen. Ihr Kampf findet zunehmend Echo bei den nationalistischen Polen, Böhmen, Ungarn und Griechen quer durch das europäische Patchwork regionaler Empfindlichkeiten und lang gehegter Kränkungen. Und schein-heilige Briten müssen schweigen. Sie haben lange den irischen Separatismus bekämpft und den Schotten und Walisern das Mitspracherecht verweigert, während sie Soldaten geschickt haben, um Jugoslawien auseinander zu brechen.

Colm Tóibín


Ein anderer, Colm Tóibín, hat 40 Jahre die katalanische Politik beobachtet und ruft Madrid auf, seine Haltung zu mäßigen. "Wer müsste leiden, wenn Katalonien unabhängig würde", fragt er ebenfalls im Guardian: "Warum darf Katalonien kein unabhängiger Staat in Europa sein?"
Why shouldn't Catalonia be an independent state within Europe?

Artikel 155 der spanischen Verfassung entspricht ungefähr dem Artikel 37 des deutschen Grundgesetzes, dem 
Bundeszwang 
der noch niemals angewendet wurde. Nun hat Spanien diesen Zwang angewandt.  Für die Katalanen ist diese Situation so neu, dass sie ihren Präsidenten Puidgedemont noch immer als ihren Präsidenten ansehen, als ihren Präsidenten im Exil. Der letzte katala-nische Präsident im Exil war Josep Tarradellas, der 1954 bis 1977 im Exil in Frankreich verbrachte, bis zur Wiederherstellung der Autonomie Kataloniens in Folge der Demo-kratisierung Spaniens nach dem Tod des Diktators Franco. Bei seiner Rückkehr hielt der 78-jährige eine berühmte Rede vom Balkon des Regierungspalastes in Barcelona und Tóibín war Zeuge und zu Tränen gerührt. Tarradellas hatte den Bürgerkrieg und den Faschismus erlebt, aber die Katalanen waren daran nicht interessiert, sie fanden die Rede lächerlich.. Der Artikel ist aus einem Grund interessant. Er erwähnt den grössten Korrup-tionsskandal Spaniens, in dem der spanische Präsident Rajoy als Zeuge aussagen musste - darauf wird noch eingegangen - 

Caso Gürtel: Mariano Rajoy und die Korruption in Spanien

und fährt fort:
"Rajoy hingegen, der in Katalonien eher Zwang als Argumentation anwandte, könnte gut beraten sein, seinen Tonfall zu mildern. Seit er die katalanische Autonomieregierung in einer Region (oder einem Land? Oder einer Nation?) aufgelöst hat, in der die große Mehrheit, einschließlich derjenigen, die die Unabhängigkeit nicht unterstützen, eine viel größere Autonomie wünscht, als seine eigenen Vertreter in Katalonien, einschließlich der Polizei, muss darauf achten, in den nächsten sechs Wochen nicht den großen Macker zu markieren.
Und es könnte hilfreich sein, von Rajoy und seinen Ministern und von der Sozialistischen Partei in Madrid und der Zeitung El País, die ihnen so vehement ihre Unterstützung angeboten haben - von diesen zu hören, was die eigentlichen Gründe dafür sind, dass Katalonien kein unabhängiger Staat innerhalb Europas sein sollte? Wer würde leiden? Wie? Wer würde profitieren? Wie?
Ihre Antwort war bisher nur emotional und ziemlich empört. Anstatt Abgeordneten mit langen Haftstrafen oder der Entsendung von Polizei zu drohen, wäre es nützlich, wenn sie sich daran erinnern würden, dass sie sich in der Europäischen Union aufhalten, und im Einklang mit den von der EU vertretenen Werten wäre es gut, wenn sie in einen ernsthaften Dialog und eine ausführliche Debatte mit denjenigen eintreten würden, mit denen sie in Konflikt stehen."

Die strategische Krise Europas


Joschka Fischer "Scheitert Europa?" (2014)


"Die Botschaft Moskaus ist von lupenreiner Klarheit: Russische Großmachtinteressen und die Ausdehnung der russischen Einflusszone stehen über der Unverletzlichkeit der Grenzen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in seiner Nachbarschaft. Wenn Europa dieses Grundprinzip akzeptieren würde, dann gefährdete es nicht nur seine Sicherheit, sondern auch all seine Integrationsfortschritte in einer auf Zusammenarbeit und Gleichheit aller Mitgliedstaaten angelegten Europäischen Union."

Die Zeit der "Modernisierungspartnerschaft", des "Wandels durch Wirtschaftsintegration" zwischen Russland und Europa ist lange vorbei, beendet durch Wladimir Putin selbst.
... unter dem Namen »Neues Russland« hat Putin eines der grundlegendsten Prinzipien der europäischen Staatenordnung nach dem Kalten Krieg aufgekündigt – keine gewaltsame Änderung von Grenzen – und so einen Umsturz dieser Ordnung eingeleitet, der nicht mit der Krim sein Bewenden haben wird.
Fischer, Joschka. Scheitert Europa? (German Edition) (Kindle-Positionen1259-1261). eBook by Kiepenheuer&Witsch. Kindle-Version.  
Das schrieb Joschka Fischer 2014 über die strategische Krise Europas.

Donald Tusk "Vereint stehen wir, getrennt fallen wir"  (Januar 2017)


Seitdem hat sich die Lage verschärft. Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, sieht drei erhebliche Bedrohungen Europas:
  • die neue geopolitische Lage: selbstbewusstes China, russische Aggression gegen Ukraine und Nachbarn, Krieg, Terror, Anarchie im Nahen Osten und in Afrika, besorgniserregende Aussagen der neuen amerikanischen Regierung
  • die interne Lage: Zunahme der nationalistischen und fremdenfeindlichen Stimmung in der EU selbst
  • die Geisteshaltung der pro-europäischen Eliten: schwindendes Vertrauen in die politische Integration, Unterwerfung unter populistische Argumente, Zweifel an den grundlegenden Werten der freiheitlichen Demokratie.

Sein Schreiben vom 31.01.2017 an die 27 Staats- und Regierungschefs der EU zur Zukunft der EU vor dem Gipfeltreffen in Malta ist lesenswert:
Vereint stehen wir, getrennt fallen wir
Das  Problem der Regionen in der EU wurde bis dahin als historisch erledigt betrachtet.

Rechte und Linke im Zwielicht der russischen Agenda


Es hat den Anschein, dass unter der Führung russischer Strategen die AfD und die Linken gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten dabei sind, die strategische Schwäche  des sog. mittel - europäischen Establishments auszunutzen. Will man nämlich der AfD und der Linken folgen, dann ist das "Neue Russland" identisch mit der EAWU, der Eurasischen Wirtschaftsunion. Die EU - Länder und ENP Länder, die 2004 in der Europäischen Nachbarschaftspolitik ENP ausgehandelt wurden, könnten dann friedlich und prosperierend in der "Eurasischen Freihandelszone" leben, die von Lissabon bis Wladiwostok reicht.
Beim Bundestagswahlkampf führte die AfD einen Russlandkongress durch, zu dem sie Algis Klimatis als Hauptredner eingeladen hatte. Der sprach über die Eurasische Freihandelszone und stützte sich auf ein Focus Papier der Bertelsmann Stiftung. Das soll hier nicht vertieft werden. Aber einige Links zum Weiterlesen sind nützlich:
Tagesschau: Experte mit fragwürdiger Vergangenheit 
Eine Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok 
T-Online: AfD und Linke im Zwielicht der russischen Agenda 

EU gibt sich gelassen


Die medialen Wellen gehen hoch. EL PAÍS hatte schon am 28. September über russische Einmischung in das Referendum berichtet, die Washington Post hat das dieser Tage bestätigt. REUTERS zitiert die spanischen Außen- und Verteidigungsminister, sie hätten Beweise für die Einmischung Russlands. EL MUNDO  bringt stets aktuelle Neuigkeiten.  Viele Medien haben News-Blogs aufgesetzt. Breitbart News hatte schon Ende Oktober Stellung bezogen: "Die EU wird nicht überleben, wenn sie eine Marionettenregierung in Katalonien installiert."

Die Bundesregierung hat sich hinter die spanische Regierung gestellt. Die baskische Regionalregierung hält sich sehr zurück. Die abgesetzte katalanische Regierung fordert in Brüssel ein Eingreifen der EU und gibt sich offen für eine Einigung des Konflikts. Solange die EU sich nicht einschalten will, kann nur spekuliert werden. Interessanterweise hat der Vatikan einige Schritte eingeleitet, wie gewohnt sehr subtil.

Yakis Varoufakis hat gerade sein neues Buch herausgebracht: "Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment". 

Eine vorläufige Zusammenfassung ist im nächsten Teil beabsichtigt.

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