Freitag, 15. Dezember 2017

Ist Spaniens Krise eine Chance für Europa?

Is Spain's crisis Europe's opportunity?



Teil 7: Nachtrag / Part 7: Supplement

Belgien: Geflohene katalanische Politiker sind frei

Das Referendum am 1. Oktober zur Unabhängigkeit Kataloniens wurde von der spanischen Zentralregierung durch Absetzung der katalanischen Regionalregierung und Haftbefehle gegen ihre führenden Mitglieder beantwortet. Der katalanische Präsident Puidgedemont und 4 seiner Kabinettsmitglieder flüchteten und Madrid stellte internationale Haftbefehle gegen sie aus. Die geflüchteten Politiker beantragten am 1. November Asyl in Belgien, wo sie sich seitdem zur Verfügung der belgischen Justiz hielten. Ein Madrider Gericht zog am 5. Dezember die internationalen Haftbefehle zurück, hielt die Auslieferungsanträge aber aufrecht. Gestern, am 14. Dezember 2017, beendete ein belgisches Gericht das Verfahren zur Auslieferung als "gegenstandslos" und hob die Beschränkung der Freizügigkeit der 5 Politiker auf.

Wenige deutsche Medien brachten die Nachricht und zwar ohne Kommentar. Französische, portugiesische, spanische und britische Medien hielten ihre Kommentare kurz. Was bedeutet nun die Entscheidung des belgischen Gerichts für Europa? Sebastian Bauer, Direktor der katalanischen Zeitschrift Quadern de les idees, les arts i les lletres und assoziierter Professor an der Touluse Business School, hatte bereits in der November - Ausgabe von Le Monde diplomatique eine Analyse veröffentlicht und behauptet: "Die katalanische Krise wurde in Madrid geboren".


Die Brüsseler Entscheidung in den Medien

gefolgt vom Newsblog der Augsburger Allgemeinen
Puidgedemont muss wohl keine Auslieferung mehr befürchten
und der ZEIT
Verfahren zur Auslieferung Puidgedemonts eingestellt
Die portugiesischen Blätter Correio de Manhan und Expresso und die britische The Straits Times hielten sich in kurzen Kommentaren bedeckt:
Bélgica arquiva caso contra Puidgedmont

Macron y Puidgedemont disputam elecao de figura international
[ Macron und Puidgedemont in Umfragen die beliebtesten Politiker ]
Belgium ends extradition case against Catalan separatist leader Carles Puigdemont 


Die katalanische Krise wurde in Madrid geboren


"In der Frage der katalanischen Unabhängigkeit sind die politischen Führer in Barcelona und Madrid ähnlich: Sie glauben, dass ihre Unnachgiebigkeit die Skandale der Korruption vergessen lassen wird, von denen sie überwältigt werden. Dieser Nährboden begünstigt das gegenseitige Auftrumpfen bis hin zur Repression. Sich eine Lösung des Konflikts vorzustellen, bedeutet aber im Gegenteil, zu den Wurzeln der Krise zurückzukehren."
Damit beginnt Sebastian Bauer seine Analyse
La crise catalane est née á Madrid
[ Die online - Ausgabe der einflussreichen und zurecht berühmten Le Monde diplomatique zeigt die ersten Zeilen ihrer Artikel an und verlangt zum Weiterlesen ein Abonnement. Darum werden einige wichtige Gedanken des Artikels hier übersetzt. ]
Bauer erkennt, dass die Positionen der gegnerischen Parteien seltsam, ja "erratisch" sind und dass man sie besser erkennt, wenn man die "Lesebrille Separatismus gegen Zentralstaat" ablegt. Diese "Brille" verbirgt nämlich ein tiefer liegendes Problem: die spanische Verfassung wurde seit ihrer Verabschiedung 1978, drei Jahre nach dem Tod des faschistischen Diktators Franco, nicht weiterentwickelt und hat nach und nach den Kontakt zur Realität der Gesellschaft verloren, die von ihr strukturiert werden soll. Die o.a. Lesebrille erklärt nicht, warum der spanische Premierminister am 1. Oktober "Katalonien anzündete" und danach zu Wahlen aufrief oder warum sein katalanischer Amtskollege eine Unabhängigkeit ohne reale Wirkung erklärte und damit seine Mitstreiter und seine Gegner gleichermaßen verärgerte. Die Antwort liegt für Bauer in der Tatsache, dass die katalanische Krise eine Form der "Territorialisierung von Konflikten ist, die anderswo entstanden sind."

Seit der Umsetzung der drakonischen Sparpolitik (Austeritätspolitik) im Jahr 2011 befindet sich Spanien in einer Phase der Instabilität, die sich in immer schwereren Krisen zeigt: die Besetzung der  sog. "Plätze des 15 - M" im Jahr 2015; die Parlamentskrise in den Jahren 2015 und 2016, die dazu führte, dass 315 Tage lang keine Regierung existierte und die Geschäfte von einem Rat von Ex-Ministern geführt wurden; die sezessionistische katalanische Herausforderung. Das Problem, das den drei Ḱrisen zugrundeliegt? Es sind die Prinzipien einer Verfassung, die als Ausgangspunkt für den Übergang vom Frankismus zur Demokratie gedacht waren, jedoch letztendlich den Prozess verhinderten, den sie ermöglichen sollten.

Der Artikel von Bauer bringt viele Beispiele für "alte frankistische Zöpfe", die längst hätten abgeschafft werden müssen. Eines ist aber besonders hässlich: das System des aforiamento, was kaum zu übersetzen ist. Es bedeutet, dass ca. 17.000 ausgewählte Personen das Recht haben, von besonderen Gerichten "beurteilt" zu werden, die von gewöhnlichen Bürgern nicht angerufen werden können. Es gibt einige juristische Arbeiten zu dem Thema, die auch für Juristen mit Spanischkenntnissen schwierig zu sein scheinen u.a.

http://derechoyperspectiva.es/inviolabilidad-inmunidad-y-aforamiento-en-espana/

Ein anderes Überbleibsel aus noch älterer Zeit wurde im Teil 6 diese Serie erwähnt: die Gewinnbeteiligung an einem Verbrechen, die nicht strafbar ist, die sog. "participacion à titulo lucrativo".

Wer tiefer einsteigen möchte, sollte sich entweder die Printausgabe November 2017 beschaffen oder ein Abonnement von Le Monde diplomatique erwägen.



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